Zur österreichischen Schwerarbeitsverordnung aus berufskundlicher Sicht
Kurt Landau[i]
Bei der Sachverständigenbegutachtung eines Antrags auf Schwerarbeitspension gibt es immer wieder offene Fragen und auch Streitfälle. Der folgende Beitrag beleuchtet einige der kontroversen Diskussionspunkte, die bei der Beurteilung einer möglichen Schwerarbeit im Rahmen einer gerichtlichen Auseinandersetzung entstehen können.
Mit der Pensionsharmonisierung 2005 wurde ab 1. Jänner 2007 die Schwerarbeitspension eingeführt. Welche Tätigkeiten als Schwerarbeit gelten, ist durch Verordnung des Sozialministeriums geregelt.[ii]
Ein Pensionsantritt kann damit auf Antrag ab dem 60. Lebensjahr erfolgen, wenn in einem bestimmten Zeitraum vor dem Pensionsstichtag Schwerarbeit geleistet wurde.
Zur Beurteilung einer möglichen Schwerarbeit sei auf die einschlägigen Gesetzestexte[iii] sowie auch z. B. auf die Übersichtsarbeit von Milisits[iv]verwiesen.
Kalorienrechnung
Die Bestimmung der körperlichen Schwerarbeit kann anhand einer Kalorienrechnung nach Spitzer et al (2008) vorgenommen werden.[v]
Nach § 1. (1) 4 der Schwerarbeitsverordnung gelten Tätigkeiten dann „als schwere körperliche Arbeit(....), wenn bei einer achtstündigen Arbeitszeit von Männern mindestens 8 374 Arbeitskilojoule (2 000 Arbeitskilokalorien) und von Frauen mindestens 5 862 Arbeitskilojoule (1 400 Arbeitskilokalorien) verbraucht werden,(....)“
In der Anlage zur Schwerarbeitsverordnung wird ausgeführt „ Die Einstufung von beruflichen Tätigkeiten als „energetische Schwerarbeit“ erfolgt nach folgenden Grundsätzen:
Die Arbeitsenergieumsatz-Richtwerte werden nach arbeitsmedizinischen Standards ermittelt. Auf dieser Grundlage werden Tätigkeitsbeschreibungen mit ihren Jouleverbrauchswerten erstellt und hinsichtlich ihrer Dimensionen umgerechnet.
Schließlich wird geprüft, ob durch die mit einem bestimmten Beruf verbundenen Tätigkeiten (Tätigkeitsbilder) die vorgegebene Kilojoulegrenze (8 374 bei Männern bzw. 5 862 bei Frauen) pro Tag erreicht oder überschritten wird.“
Der österreichische Gesetzgeber hat sich also auf die Verwendung der Arbeitsenergieumsatzrechnung nach Spitzer et al (1982) festgelegt. Ihm hat bei der Gesetzesausarbeitung der „typische“ Schwerarbeiter, z. B. auf dem Bau, vorgeschwebt. Hierfür eine Kalorienrechnung durchzuführen, ist eine von mehreren Möglichkeiten der Beurteilung. Durch die Konzentration auf das Herz-/Kreislauf-/Lungensystem wird dabei aber die Beanspruchung des Muskel-Skelett-Systems vernachlässigt.
Die Beschwerden-, Krankheits- und Reha-Zahlen in Österreich konzentrieren sich jedoch auf Muskel-Skelett-Leiden. Dies trifft vor allem auch auf repetitive Arbeitsvorgänge mit kritischen Körperhaltungen von Beschäftigten zu.
Selbst wenn man die Kalorienrechnung akzeptiert, ist die Anwendung der Spitzer-Daten fragwürdig: Sie wurden in den 1930er Jahren und nach dem 2. Weltkrieg unter damals völlig anderen Ernährungs- und Arbeitsbedingungen gemessen bzw. errechnet. Zudem berücksichtigen sie nicht die klimatischen Einflüsse. Verwiesen sei auch auf die Dissertation von Rinnerhofer (2012) an der Universität Graz[vi], in der auf die Problematik der Kalorienrechnung nach Spitzer et al (1982) im Hinblick auf die Schwerarbeit eingegangen wird.
Verwendung eines „Schwerarbeitsrechners“
Die Wirtschaftskammer Österreich geht im Einzelnen auf die Anwendung eines Schwerarbeitsrechners ein.[vii] Sie mahnt folgendermaßen zur Vorsicht bei der Anwendung dieses Schwerarbeitsrechners „Für eine individuelle exakte Feststellung des tatsächlichen Arbeitskilojouleverbrauchs ist der Schwerarbeitsrechner nicht geeignet, sondern ist das Beiziehen eines Arbeitsmediziners oder berufskundlichen Sachverständigen erforderlich. Die Ergebnisse des Schwerarbeitsrechners binden weder Sozialversicherungsträger noch Behörden oder Gerichte.“
Arbeitsenergieumsatz-Rechner des ASER-Instituts
Das ASER-Institut in Wuppertal/Deutschland bietet eine stark vereinfachte Schätzmethode für den Arbeitsenergieumsatz auf der Basis des Tabellenwerks von Spitzer et al (1982) an.[viii] Zunächst wird das Geschlecht der Arbeitsperson abgefragt, danach werden Körperstellung mit sechs Alternativen und die Art der Arbeit mit 13 Alternativen eingegeben, daraus wird der Arbeitsenergieumsatz berechnet. Sofern Tätigkeitsaufschreibungen für die Arbeitsperson existieren, kann dieser Vorgang mehrmals für die unterschiedlichen Tätigkeiten durchgeführt und ein (möglicherweise gewichteter) Mittelwert errechnet werden. Sofern erforderlich, kann im Anschluss auch eine Klimabewertung mit derselben Software vorgenommen werden. Die Ermessensspielräume des Analytikers sind beträchtlich, vor allem dann, wenn die Schwerarbeitszeiträume schon einige Jahre zurückliegen oder der damalige Arbeitgeber nicht mehr existiert.
Diese Vorgehensweise ist normalerweise nicht gerichtsfest.
Eine über die energetische Schwerarbeit hinausgehende Belastungsanalyse könnte zum Beispiel mit einer Arbeits- und Zeitstudie nach REFA durchgeführt werden. Dies hätte allerdings folgende Nachteile:
- Aus Aufwandsgründen kann kein längerfristig repräsentativer Zeitraum vor Ort abgedeckt werden.
- Der Tätigkeitsablauf der Arbeitsperson könnte durch die Anwesenheit eines Analytikers beeinflusst werden.
Wenn die Arbeitsplätze bzw.- vorgänge noch existieren bietet sich anstelle einer REFA-Ablauf- und Zeitstudie eine validere Möglichkeit an: Bestimmung von Arbeitsenergieumsatz und Klimabelastung mit der Multimomenttechnik.
Es handelt sich dabei um ein, seit mehr als hundert Jahren erprobtes, validiertes und zwischen den Kollektivparteien akzeptiertes Verfahren des Arbeitsstudiums (REFA, 1997, Haller-Wedel, 1969). Das Prinzip wird an folgender Zeitbanddarstellung deutlich:
Die Multimomentbeobachtungen sollten statistisch zufällig erfolgen. Hierzu hat man in der Vergangenheit komplexe, statistisch abgesicherte Rundgangspläne entworfen. Heute verzichtet man häufig darauf und geht davon aus, dass durch die Vielzahl der Beobachtungen – trotz eines festen „Schnappschuss-Fensters“ von z. B. 15 Sekunden – die statistische Zufälligkeit gewährleistet ist. Die braun unterlegten Arbeitsvorgänge in Abb. 1 werden bei dem Rundgang erfasst, der schraffiert dargestellte Arbeitsvorgang würde dem Analytiker allerdings entgehen. Durch das Prinzip „der großen Zahl“ der Beobachtungen ist dies jedoch unerheblich.
Die Multimomenttechnik eignet sich hervorragend zur Analyse von Arbeitsabläufen, Körperhaltungen und -bewegungen, Krafteinsatz, Lastenhandhabung u. a., vor allem dann, wenn die Basis eine Foto- und Videodokumentation ist. Sie ist auch präziser als eine klassische Zeitstudie, da üblicherweise ein großer Beobachtungszeitraum überdeckt wird und der statistische Vertrauensbereich f nach Abschluss der Studie ermittelt werden kann:
p = Anteil der Beobachtungen der interessierenden Ablaufart
n = Gesamtzahl der Beobachtungen
In der Industrie werden Multimomentstudien häufig über zwei Wochen, möglicherweise über drei Schichten durchgeführt. Das ist natürlich im Rahmen eines Sachverständigengutachtens schwerlich leistbar, da auch die finanziellen Möglichkeiten des Auftraggebers schnell überschritten werden.
Wie die statistischen Auswertungen des Verfassers jedoch zeigen, ist auch bei einer limitierten Beobachtungszahl ein ausreichender statistischer Vertrauensbereich zu sichern.
Die Anwendung der Multimomenttechnik für die Fälle der Schwerarbeitsfeststellung kann in zwei Schritten erfolgen:
1. Datenerhebung
- Erstellung eines Konzepts für die Datenaufnahme
- Erstellung einer umfassenden Foto- und Videodokumentation der Tätigkeit und der einzelnen Arbeitsstationen
- Erhebung von Lufttemperatur, relativer Luftfeuchte und Wärmestrahlung über mehrere Tage z. B. mit einem Klimasensor
- Datenaufnahme mit einem Schrittzähler am Handgelenk über mehrere Tage
2. Datenauswertung
- Auswertung des Video- und Fotodatenbestands mit der Multimomenttechnik
- Erstellung von Körperhaltungsanalysen
- Erstellung von Körperbewegungsanalysen
- Ermittlung der Arbeitsschwere gemäß Schwerarbeitsverordnung § 1 bis § 3
- Ermittlung der klimatischen Belastung gemäß Schwerarbeitsverordnung § 1 (1) Z 2
Hinweis In der Folge zu diesem Text erscheinen monatlich weitere Ausführungen zur Schwerarbeitspension. |
[i] Der Verfasser ist allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für Berufskunde
vgfgg
[ii] https://www.oesterreich.gv.at/themen/arbeit_beruf_und_pension/pension/2/4/Allgemeines-zur-Schwerarbeitspension.html
[iii] Schwerarbeitsverordnung (BGBl 11 Nr. 201/2013 und 11 Nr. 413/2019
Bundesgesetz über Schutzmaßnahmen für Nachtschwerarbeiter (2024). https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10008502 (08.03.2024)
Nachtschwerarbeitsgesetz Art. 7, tagesaktuelle Fassung (2024):https://www.ris.bka.gv.at/NormDokument.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10008502&Artikel=7&Paragraf=&Anlage=&Uebergangsrecht= (10.03.2024)
53. Verordnung: Belastungen im Sinne des Art. VII Abs. 2 Z2, 5 und 8 des Nachtschwerarbeitsgesetzes (1993). https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1993_53_0/1993_53_0.pdf (10.03.2024)
[iv] Milisits, C. (2010): Berücksichtigung von besonders belastenden Erwerbstätigkeiten in der Pensionsversicherung. Diss., Universität Wien
[v] Spitzer, H.; Hettinger, Th.; Kaminsky, G. (1982): Tafeln für den Energieumsatz bei körperlicher Arbeit. Berlin: Beuth.
[vi] Rinnerhofer, St. (2012): Körperliche Leistungsfähigkeit und gemessener Energieverbrauch bei unterschiedlichen berufstypischen Tätigkeiten – Entwicklung von Normwerten. Diss., Karl-Franzens-Universität Graz
[vii] https://www.wko.at/sozialversicherung/schwerarbeitsrechner (22.10.2024)
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Inhalt:
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Kontakt: kl[at]ergonomia.de
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Landau K, Weißert-Horn M, Diaz Meyer M, Jacobs M, Salmanzadeh H and Ahmadi M:
Workload Analysis and Ergonomic Design of Nursing Tasks when Caring for Chronically Sick Patients
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